Samstag, 24. Juli 2010

Huayna Potosí: 6088 Meter über Meer

Ich bin wieder einmal zurück in La Paz... ich habe wirklich genug von dieser Stadt, aber es ist schwierig, von hier weg zu kommen. Ausserdem sollte ich meinen Reiseplan für Bolivien endlich einmal genau festlegen.

Wahrscheinlich steht als nächstes Mountainbiking von Sorata nach Rurrenabaque auf dem Programm. Vielleicht gehts noch nach Torotoro, Santa Cruz, den jesuitischen Missionen im Dschungel... die Frage ist einfach: Wie komme ich auf einem logischen und nicht allzu kompliziertem Weg nach Chile. Eine Möglichkeit wäre, von einem Vulkan in der Nähe von La Paz mit dem Mountainbike runter an die chilenische Küste zu fahren.

Durch meine zerbrochene Bankkarte war ich, nachdem Anasol wieder zurück nach Kolumbien geflogen war, sozusagen in La Paz gefangen. Ohne viel Geld ging ich jeden Tag mit schwindender Hoffnung und wachsender Verzweiflung zur Post...

Die Geschichte ist unglaublich und typisch bolivianisch: Jedes Mal, wenn ich vorbei kam und nach dem "correo" fragte, fragte ich gleichzeitig auch, ob es auch einen anderen Ort gäbe, wo die Post sein könnte - immer hiess es: "No"! Eines der Lieblingswörter bolivianischer Angestellter.

Die Wahrheit ist, dass der Brief in den Stapel der "Latinos" und nicht in jenem der "Gringos" lag. D. h., dass der Brief schon vor einer Woche ankam, die Angestellten aber zu faul waren, um im anderen Stapel nachzuschauen, auch wenn ich jedes Mal danach fragte... unglaublich, oder?

Eine weitere typisch bolivianische Erfahrung ist der Aufenthalt in meinem Hostel: Onkel.Inn. Den ganzen Tag wird man dort mit der schrecklichsten Musik in der tiefsten MP3 Qualität zugedröhnt. Beim zwanzigtausendsten Mal "Lady in Red", "Kiss From a Rose", "Bed of Roses" auf Spanisch, Mariah Carey mit mindestens fünf Titeln hintereinander, "Imagine" von John Lennon, oder "Ooaiaiai Bamboleeeooo ooaiai" (irgendeinem schrecklichen Eurodance Titel), möchte man sich die Kugel geben.

Oder man gibt drastisch Gegensteuer und hört auf dem Ipod in voller Lautstärke System of a Down oder die Eagles of Death Metal. Aber die Angestellten kommen nicht auf die Idee, die Musik zu ändern, oder einfach auszuschalten, auch wenn sich mehrere Gäste über die schreckliche 80ies Brühe beklagen...

Naja, jedenfalls hatte ich wegen der bolivianischen Post viel Zeit, um in la Paz Zeit zu verschwenden und möglichst wenig Geld auszugeben (50 Franken in einer Woche). Für dies hat es jedoch trotzdem noch gereicht: Anasols Lieblingssandwich in der Kuchenstube...

Die Stube riecht sogar nach deutschen Grossmüttern. Etwa wie bei einem Kännchen Kaffee und Käsesahnetorte im Hafen von Immenstaad...

Mehr oder weniger durch Zufall fand ich den Parque Mirador Monticulo im Viertel Sopocachi...
Der Cañon von La Paz
Glashaus ohne Steine
Illimani (6439 Meter), der Hausberg von La Paz und zweithöchster Berg Boliviens
Jedes Jahr am letzten Samstag des Julis, findet ein Tanzfestival der Studenten statt. Vielleicht das beeindruckendste des Festivals ist, dass in den Wochen vorher in den Parks der ganzen Stadt die Studenten ihr Programm üben.
Neben Jean-Claude van Damme ist Jackie Chan der Lieblingsschauspieler aller Busfahrer in Südamerika. Man fragt sich manchmal, wie viele Filme die beiden eigentlich gemacht haben, wenn einem im Bus wiedermal ein Karatefilm in voller Lautstärke den Schlaf raubt. Jackie wird in La Paz sogar mit einem Restaurant gewürdigt.
Por fin! Endlich kam meine Bankkarte in La Paz an und ich hatte wieder Geld. Selten habe ich eine so grosse Erleichterung gespürt, wie in diesem Moment.

Da ich ja genug Zeit gehabt hatte, um die nächsten Reiseschritte zu planen, ging ich zu Alberth Bolivia, und buchte gleich die Tour zur Besteigung des Huayna Potosí (6088m). Schon am nächsten Tag ging es los.

Eine Cholita erobert die Welt!Der Cañon von La Paz vom El Alto aus. Hinten der Illimani.
Und schon der erste Blick auf den Huayna Potosí durch das Chaos der Häuser von El Alto.

El Alto ist die am schnellsten wachsende Stadt Südamerikas. Tausende von Aymará sprechenden Einwohnern des Altiplanos Boliviens ziehen jedes Jahr hierher. Das Resultat ist ein Chaos an billig gebauten, halbfertigen Häusern und wenig, fast ebenso billige, Infrastruktur. Erinnert ein wenig an die Entstehung von Athen nach dem Scheitern der "Megali Idea" Unser Fahrer, Victor, und unser Bus. Pünktlichkeit war keine Stärke der Agentur... und die Rechtschreibung auch nicht. Auf der Frontscheibe des Busses steht nämlich "Toyosa".

Ist wirklich erstaunlich, wie viele Schreibfehler man hier sieht. Auch wenn die meisten Leute in La Paz hauptsächlich Spanisch sprechen, ist es für viele eine Zweitsprache. Da heisst es oft "el mano", "el nieve"... oder Ähnliches. Sieht zwar schön aus, doch die Farbe kommt von einer Mine, welche die Laguna verschmutzt und rot färbt.

Ausserdem habe ich eine schöne Statistik über den Rio Choqueyapu, der zum Glück unterirdische Fluss von La Paz gefunden:

600'000 Liter Urin, 200'000 Tonnen menschliche Exkremente und Millionen Tonnen von Abfällen, Tierleichen und Industrieabfällen muss dieser Fluss jährlich ertragen. Das krasseste ist jedoch, dass die Bauern unterhalb von La Paz das unglaublich dreckige Wasser als Trinkwasser brauchen und damit ihre Felder zu bewässern. Die meisten kochen das Wasser nicht einmal ab... und wenn sie das trotzdem tun, dann kann dies den Chemikalien sowieso nichts anhaben. Zu guter Letzt schwimmt das Gebräu unfrisch aber munter in den Amazonas. Unser Ziel: Der Huayna Potosí... Sieht gar nicht mal so hoch aus.
Am ersten Tag ging es vor allem um die Akklimatisierung. Am Gletscher des Huayna Potosí übten wir, mit den Steigeisen zu laufen und durften ein wenig Eisklettern, was wirklich sehr viel Spass machte.
Leider war es unmöglich Fotos vom Eisklettern zu machen.
Immer die gleiche Geschichte: Vor 15 Jahren reichte der Gletscher noch bis in die Hälfte des Sees.
Spiegelungen, immer wieder beliebt.
Der Gletscher des Huayna Potosí

Vom Gletscher ging es wieder hinunter in unser Refugio auf 4800 Metern, wo wir die erste Nacht schliefen.
Meine Gruppe: Hyunsup Lee (wegen des unaussprechlichen Vornamens - sieht geschrieben einiges einfacher aus, als ausgesprochen - entweder Lee oder brasilianisch Luciano) lernt von unserem Führer Teo, wie man einen Rucksack packt... und kommt aus dem Staunen nicht mehr hinaus.
Vom ersten Refugio ging es hinauf auf 5200 Meter. Ein erstes Mal leiden.

Die Aussicht
El Campo Rocas Glacier: Einen ganzen Nachmittag hat man Zeit, um zu entspannen und sich an die Höhe zu gewöhnen.
Nach wenig Schlaf muss man dann um 00 30 aufstehen, um eine Stunde später loszulaufen.

Der Aufstieg ist unglaublich hart. Mein Glück war, dass Lee einen tieferen Rhythmus hatte als ich. Darum kam ich nicht an meine Grenzen, während Lee ziemlich leiden musste. Wir machten an diesem "Morgen" 900 Höhenmeter und jeder Meter ist ein Kampf. Lee verlor gegen Schluss fast die Koordination und torkelte wie ein besoffener der Berg hoch... Bis ihn Teo dann anschrie, er solle sich konzentrieren und zusammennehmen.

Hier das einzige Foto während des Aufstiegs, der mehr als fünf Stunden dauerte. Lee mussten wir dann auf 6000 Meter zurück lassen. Er war total ausgelaugt. Die letzten 90 Meter zum Gipfel sind sehr anstrengend, steil und ziemlich gefährlich. Man sollte jedenfalls keine Höhenangst haben, wenn man bei Sturmwinden auf der Krete hinauf klettert.

Teo auf dem Gipfel.La Paz
Es ist ein unglaublich emotionaler Moment, wenn man auf dem Gipfel ankommt. Man spürt eine sehr grosse Erlösung und Stolz. Die Aussicht ist umwerfend. Die Sonne geht auf. Der Wind treibt die Wolken über die Berge. Ich hatte nicht erwartet, von dem Emotionen derart überrollt zu werden. Habe immer noch Flashbacks, wenn ich an diesen einmaligen Moment (das wars wirklich!) denke.
6088 Meter über Meer!
Und da gehts runter.
Leider war es sehr schwierig, Fotos zu machen. Die Finger frieren einem fast ab, der Wind windet den Bändel der Kamera vor die Linse, man muss sich konzentrieren, nicht vom Berg hinunter zu fallen... Die Fotos reflektieren darum vielleicht nicht so genau, was man von diesem spektakulären Ort aus sieht und fühlt.
Sonnenaufgang
Schneefelder
Die Cordillera Real und die ungemütliche Krete hinauf zum Gipfel.Der Mond war die ganze Nacht so stark, dass man die Stirnlampe gar nicht brauchte.
Erschöpft aber sehr zufrieden und glücklich.
Teo. Die Führer arbeiten sehr hart: Nachdem sie morgens den Gipfel bestiegen haben, geht es für sie hinunter auf 4800 Meter, um die nächste Gruppe abzuholen und eventuell am nächsten Tag den Berg gleich nochmals zu besteigen...
Lee musste an diesem windigen und kalten Ort auf uns warten, bis wir wieder vom Gipfel hinunterkamen.
Eisformationen

Auf dem Weg hinunter gab es dann mehr Gelegenheiten, um Fotos zu machen.
Gletscherspalte

Über die Gletscher... in anderthalb Stunden den ganzen Weg wieder hinunter.
Lee war ziemlich fertig.
Absi absi

Und schon sieht man das Refugio. Mehr als fünf Stunden herauf gekämpft und in weniger als zwei Stunden wieder nach unten spaziert. Die Höhe macht jede Bewegung unglaublich schwer und man kommt wie in Zeitlupe vorwärts. Meistens starrt man nur auf seine Füsse und den Schnee und konzentriert sich auf die Atmung und darauf gleichmässige Bewegungen zu machen.

Ausserdem ist es wichtig, etwas zu essen, auch wenn einem alles quer im Magen zu liegen scheint und die Verdauung sehr langsam ist. Die meisten, die aufgaben, haben das wahrscheinlich aus psychologischen Gründen gemacht. Man hat das Gefühl, dass man einfach überhaupt nicht vorwärts kommt. Umso grösser ist die Erleichterung auf dem Gipfel.
Naja, an Bolivien scheiden sich die Geister... neben Frustrationen und unglaublich unlogischer Sturheit und sehr wenig Flexibilität (aktuell: Die Mitarbeiter von Onkel.Inn und jene der bolivianischen Post), habe ich hier Dinge gesehen (Salar de Uyuni, die Minen von Potosí, die Märkte von La Paz) und Sachen erlebt (Huayna Potosí) die ich nie vergessen werde. Die Emotionen, die mich da oben auf dem Gipfel wie aus dem Nichts trafen... es war einfach krass.

Ausserdem waren die Bergführer, allen voran Teo, aber auch jene der anderen Gruppen, simple Leute, aber vom Charakter her einfach Spitzenklasse. Jede Woche diesen Gipfel zwei- bis dreimal zu besteigen, und zudem nicht die Geduld mit den Touristen zu verlieren, ist eine ziemliche Leistung.

Auf der einen Seite kann ich wegen den vielen Frustrationen eigentlich niemandem empfehlen, nach Bolivien zu kommen... auf der anderen Seite ist es fast unmöglich, sich dieses Land entgehen zu lassen. Man muss ja nicht gleich nach La Paz zügeln.

Das bemerkenswerte ist, dass Kolumbien mir - natürlich auch wegen der Natur (Valle de Cocora, die Karibik, la Guajira) und der Städte und Dörfer (Villa de Leyva, Barichara, Jericó, Medellín) - viel besser in Erinnerung bleiben wird, weil die Leute einfach unglaublich offen, nett und freundlich sind. Ich habe kein Problem zu sagen: Geht nach Kolumbien! Während ich das im Fall von Bolivien nur schweren Herzens tue... oder tun würde.

Darum: Geht nach Kolumbien... wirklich!